Der Faust ist eine weite Landschaft, die sich immer anders zeigt. Es gibt die unterschiedlichsten Klima- und Zeitzonen; die Bevölkerung spricht unterschiedliche Sprachen, lebende und tote. Für diese Landschaft eine passende Musik zu komponieren, bedeutet eine Musikgeschichte zu erfinden. Der „Faust I” enthält nicht nur zahlreiche Lieder, sondern wimmelt vor Geistern, die nicht mit gewöhnlichen Menschenzungen sprechen. Der „Faust II“ treibt diese Anlage noch weiter ins Experimentelle. Eckermann drückte es vorsichtig aus, wenn er Goethe sagte, dass es „auf der Bühne einen ungewohnten Eindruck” machen werde, „dass ein Stück als Tragödie anfängt und als Oper endigt.”
Die Meininger Fassung bietet mit gut anderthalb Sunden Musik zwar keine Oper, aber ein musikalisches Schauspiel allemal. Die Ouvertüre zum ersten Teil stellt einige der Themen vor, die durch die beiden Abende führen werden: die Faust-Melodie, Geistermotive, Mephistos musikalisches „Wappen”, das Lied Gretchens. Aber auch Anklänge an Volkslied und Volkstänze sind zu finden, die Musik der „kleinen Welt”, wie Mephisto sich ausdrückt. Aber wo es magisch wird und der normale Verstand aufgibt, da übernimmt die Musik ganz die Führung. Es entstehen regelrechte Musiktheaterszenen wie in der „Hexenküche” und der „Walpurgisnacht”.
Der „Faust II” führt den Helden dann von der kleinen in die große Welt, durch Vergangenheit und Zukunft. Spielt in der Pfalz des Kaisers noch eine neunköpfige Hofkapelle auf, so wird im Zuge von Fausts ehrgeizigen Zukunftsprojekten auch die musikalische Begleitung immer gegenwärtiger. Die Euphorion-Szene lässt die Walpurgisnacht des ersten Teils nachträglich als gemütlichen Spaziergang erscheinen. – Neue Zeiten wecken neue, unbeherrschbare Kräfte.
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